Postillon, Titanic & Co: Warum Satire-Artikel so oft geteilt werden und was Marketer daraus lernen können

Postillon, Titanic & Co: Warum Satire-Artikel so oft geteilt werden und was Marketer daraus lernen können

60.713 Mal. Genau so oft wurde ein Beitrag des Postillons, über die erneut nur knapp verpasste Zweitliga-Qualifikation des Hamburger SV, auf Facebook und Twitter geteilt. Im Durchschnitt erhielt im Juni jeder Artikel des Satiremagazins rund 13.500 Shares. Werte von denen viele Contentmarketer nur träumen dürften. Dabei gibt es viel, was man vom Postillon für die eigene Marketingkampagne und den eigenen Blog lernen kann.

Satire ist eine Klickmaschine

Der Postillon ist das deutsche Flagschiff des bissigen Gesellschaftskommentars. Dessen Facebookseite hat über 1,6 Millionen Fans, und pro Woche kommen in etwa 10.000 hinzu. Davon beteiligen sich rund 300.000 Leute an der Diskussion um gepostete Artikel (Stand: Juli 2015). Zum Vergleich: Spiegel Online kommt nur auf knapp 900.000 Fans. Laut einer aktuellen Statistik von Storyclash zeigt sich, dass der Postillon im Durchschnitt auch klar auf die meisten Shares pro Beitrag kommt, noch vor Heftig.co, Bild, Spiegel und Focus. Für die Auswertung sammelt das Startup die meistgeteilten Beiträge im Social Web und veröffentlicht monatlich eine Topliste für Deutschland und Österreich. Mit der Tagespresse ist in der Alpenrepublik übrigens ebenfalls ein Satiremagazin der Spitzenreiter.

Satire ist also ein viraler Hit. Aber warum eigentlich? Um Kurt Tucholsky, den Gottvater deutscher Satire frei zu zitieren: Weil sie alles darf. Oder anders: Weil sie sich viel herausnimmt. Täglich werden Leser mit schlechten Nachrichten konfrontiert. Und die seriösen Medien tun alles, um die Katastrophenstimmung zu befeuern. Da wird ein warmer, strahlender Sommer zur „Hitzewelle“ hochstilisiert und das griechische Hin und Her bedeutet gleich den unausweichlichen Untergang des Abendlandes.

Wir teilen was uns bewegt

Während sich die Medien der Betroffenheit hingeben, nehmen Satiriker eine Nachricht, entfernen alle unnötigen Lagen an Worthülsen, bis nur noch der blanke Kern der Information übrig bleibt. Und dann tauchen sie diesen Kern in ätzenden Sarkasmus, beißende Ironie und fest im Sattel sitzende Wortbilder. Der Rezipient sieht, lacht, und das ist das Wichtigste: er versteht. Was manchmal seitenlange Texte nicht schaffen, bringt gute Satire auf den Punkt. Die Information bleibt dieselbe, doch sie wird dem Nutzer durch den Knalleffekt intensiv vor Augen geführt und bleibt hängen. Und je besser die Überspitzung gelingt, desto größer wird auch das Publikum, das für diesen Gag begeistert wird. Eine clevere Überschrift reicht oft schon aus, um den Leser zum Lachen – und damit zum Teilen – zu bringen.

Warum Satire uns so zum Interagieren einlädt, zeigt ein aktuelles Beispiel: Medien berichten über Haustiere, die in völlig überhitzten Autos zu Tode gekommen sind. Ein trauriges Thema, das nicht unberührt lässt. Der Postillon empfiehlt dazu frech, man solle Hunden im Auto Backpapier unterlegen, damit die Sitze nicht einsauen. Politisch bestimmt nicht korrekt, wurde der Beitrag innerhalb eines Tages fast 27.000 Mal geteilt. Der Effekt: Durch den Artikel konnten viele Menschen für das Thema sensibilisiert werden, denn die Backpapier-Pointe vergisst niemand. Das Teilen des Beitrags hat dabei zwei Funktionen. Erstens: „Schaut her, Knüllerwitz!“ Zweitens: „Schaut her, wichtiges Thema, das mich nicht kalt lässt. Und euch auch interessieren sollte!“

Der Wolf im Schafspelz

Auf einem besonders perfiden Grat wandert Satire, wenn sie nicht auf dem ersten Blick als solche zu erkennen ist. Oder, wie im Fall des Stinkefinger-Vorfalls mit Griechenlands Finanzminister Varoufakis, in die gewohnte Nachrichtenmaschinerie eingreift. Das Satiremagazin „Neo Magazin Royale“ hatte in der allgemeinen Empörung um den Finger behauptet, das angebliche Beweisvideo gefälscht zu haben. Für die Medien ein gefundenes Fressen, für Varoufakis eine willkommene Rechtfertigung und für Jan Böhmermann der Coup des Jahrhunderts. Denn die hatten sich das Ausdenken auch bloß ausgedacht.

Das darüber nicht alle lachen können, ist durchaus ein gewollter Aspekt von Satire. Denn auch Wut regt zu Reaktionen an, führt zu Diskussionen zur Sache und so zu einem Dialog, der mit einer Information allein niemals angestoßen werden würde. Damit die Leser jedoch nicht mehr unerwartet in die Satire-Falle tappen, will Facebook ein eigenes Tag zur Kennzeichnung einführen.

Gelesen, gelacht, gekauft: Satire im Marketing wirksam einsetzen

Freche Werbung zum Bahnstreik: Schienenersatzverkehr von Sixt.

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Der Autovermieter Sixt und dessen Werbeagentur Jung von Matt zeigen immer wieder, wie Satire im Marketing funktioniert. Dazu nehme man: ein aktuelles gesellschaftliches Problem, eine freche Botschaft und das Internet als viralen Spielplatz. Schon bleibt die Marketingbotschaft wie Klebstoff im Gehirn haften, wird online geteilt, belacht und selbst die Medien greifen sie auf. Doch wie kann man das nutzen, wenn man nicht gerade eine top Werbeagentur hinter sich hat? Mit Mut, schnellem Handeln und einer Prise Humor.

Wer Klicks und Umsatz will, muss Aufmerksamkeit generieren. Was kann ein Angebot? Für wen ist es geeignet? Was macht es besonders?: Diese Fragen sollten im Idealfall zwar irgendwann beantwortet werden, Kern einer gelungenen satirischen Kampagne sind sie nicht. Der Weg für gelungenes Satire-Marketing beginnt nicht mit dem Produkt, sondern mit der Zeitungslektüre. Denn hier bieten sich die Inhalte einer Kampagne. Die Eigenschaften des Produktes sind dabei fast irrelevant.

Aktuelle Themen aufgreifen, die die Leute bewegen

Das zentrale Element der Satire-Kampagne ist stets ein aktuelles gesellschaftliches Problem, für das das eigene Angebot eine Lösung bietet. Beispiel Sixt: „Die Bahn kommt nicht? Mietwagen! Die Bahn kommt immer noch nicht? Noch mehr Mietwagen! Danke Bahn!“ Diese Formel ist so unfassbar einfach und der Witz zündet auf so vielen Ebenen, dass die Konkurrenz dagegen nicht nur alt aussieht, sondern in den Köpfen der Pendler kaum mehr vorhanden ist. Im Grunde funktioniert das auch für Staubsauger, die Müllabfuhr und Salami. Kurz: Für alles, was man bewerben möchte.

Dabei lohnt auch ein Blick über den Tellerrand. Je weniger ein Produkt und ein Sachverhalt miteinander zu tun haben, desto einfacher funktioniert der Witz. Satiriker der Königsklasse schaffen es aber, im selben Gewässer zu fischen. Für den Anfang reichen jedoch kleine Schritte. Und ein bisschen Mut. Solange niemand ernsthaft beleidigt, verletzt oder angegriffen wird, darf sich Satire tatsächlich alles erlauben und ganz vorlaut mit Nachrichten und Lachmuskeln spielen.

Von Raphael Murr. Ursprünglich publiziert bei HORIZONT.

Über Raphael Murr

Raphael Murr ist selbstständiger Künstler, Unternehmer und Referent für die Themen Social Media und digitales Marketing. Hier bloggt er über Kreativität und gibt Einblicke in seine Projekte.

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